Der morbide Surrealismus verwaister Architektur

Thomas' Titelbild der AusstellungDas Werden und Vergehen von Unternehmen ist Teil jeder gesunden, funktionierenden Marktwirtschaft. Erfolgreiche Firmen wachsen und gedeihen, Fehlplanungen und Unangepasstheit an sich ändernde Marktbedingungen führen zu Insolvenz und Liquidation. Der politische Umschwung jedoch, der 1989/90 die DDR ergriff, zog große strukturelle Umwälzungen nach sich, in deren Folge allein bis Ende 1994 mehr als 3700 Unternehmen, die aus den Volkseigenen Betrieben hervorgegangen waren, abgewickelt wurden. Ein großer Teil der Liquidationsmasse bestand aus den Gebäuden, die die Betriebsstätten beherbergten und deren Nachnutzung sich aufgrund der massiv zurückgegangenen industriellen Produktion und der stark einsetzenden Abwanderung von Menschen aus den neuen Bundesländern schwierig gestaltete. Sich selbst überlassen und dem Verfall preisgegeben sind noch heute viele Relikte dieser Zeit in Städten und Gemeinden der neuen Bundesländer zu finden. Auch die ca. 1500 Liegenschaften verteilt auf 290.000 ha Fläche der sowjetischen Truppen in der ehemaligen DDR, wurden mit deren Abzug bis Ende August 1994 obsolet. Die Umnutzung dieser Flächen gestaltete sich nicht zuletzt wegen zurückgebliebener Altlasten schwer und auch den teils stark abgewirtschafteten Gebäuden war zu großen Teilen keine Zukunft beschieden. Jens' Titelbild der Ausstellung Während die nach der Wiedervereinigung schnell wachsende Szene von Graffitikünstlern und Sprayern sich dieser Objekte bemächtigte und auch Vandalismus und Zerstörung nicht davor Halt machten, ist mit dem Einzug der digitalen Fotografie die Formierung einer neuen Strömung von Menschen zu beobachten, die sich selbst Urban Explorer (zu Deutsch: städtische Entdecker) nennen. Unter dem Motto „Take nothing but pictures, leave nothing but footprints.“ (“Nimm nichts mit außer Fotos, hinterlasse nichts außer Fußabdrücken.”), haben es sich diese Leute zur Aufgabe gemacht, den vergänglich morbiden Charme dieser Gebäude zu erkunden und für die Nachwelt zu dokumentieren. Die hier ausgestellten Werke sind auf einigen Streifzügen durch leer stehende Gebäude und Industriebrachen in Mitteldeutschland entstanden und sollen die Faszination und die Anziehungskraft, die diese Schönheit des Verfalls ausübt, verdeutlichen.

Jens Polz & Thomas Lotze

Jena, Oktober 2012